Tatort

Tatort – Who done it?

Die Kriminalwissenschaft definiert einen Tatort als die Örtlichkeit, an der eine Tat begangen wurde, die den Tatbestand einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit erfüllt. In der Regel handelt es sich also um Orte, an denen in irgendeiner Form Übergriffe auf Menschen oder Sachen stattgefunden haben…….

 

Unabhängig von den Taten, die sich im realen Alltag ereignen, hat der Tatort im Leben vieler Menschen einen festen Platz – jeden Sonntagabend als Krimi im Fernsehen. Wer kennt sie nicht, die Gänsehaut erzeugende Auftaktmelodie, die schon zu Beginn einstimmt auf die Geschichten über Abgründe menschlichen Handelns. Als unbehelligte Zuschauer können wir uns bequem zurücklehnen und gespannt verfolgen, was Menschen anderen Menschen antun und wie dann jeder Täter seiner gerechten Strafe zugeführt wird. 

Jens Nagels hat Tatorte zum Sujet einer Reihe von großformatigen, mehrteiligen Fotoarbeiten gemacht. Aus dem schier unerschöpf­lichen Fundus der Fernsehbilder isoliert er Stills, hält flüchtige filmische Sequenzen fest, um sie anschließend künstlerisch zu bearbeiten. Er tut dies, indem er die Schärfen der einzelnen Bilder reduziert. Die bewusst gesteuerte Unschärfe lässt einen ähnlichen Effekt entstehen wie das Sfumato (italienisch: „verraucht“) in der Malerei: Die Bildobjekte erscheinen weich, mit atmosphärisch verschwimmenden Umrissen und wie durch einen Dunstschleier, wobei sich die Flächen ohne Härte der Konturen begegnen und durchdringen. Jegliche Körnung verschwindet, die Tonwerte und Farbübergänge sind fließend wie bei einem Fotogramm. Die malerische Wirkung dieser Bilder wird zudem hervorgerufen durch sinnliche Farbverläufe und eine kontrastreiche Farbbalance. Kräftiges Rot, kühles Blau, strahlendes Weiß oder sattes Grün sorgen für eine Dramatisierung, die von der Lichtführung verstärkt wird. Die „Tatorte“ von Jens Nagels sind düstere Orte. Halbdunkel und Schatten herrschen vor, das wenige Licht kommt von künstlichen Lichtquellen. Es herrscht eine diffuse Atmosphäre, die das Geheimnisvolle und Suggestive des Dargestellten befördert. Das Geschehen spielt sich sowohl in öffentlichen wie privaten Räumen ab: Treppenhäuser, Hinterhöfe, Parkplätze und Unterführungen ebenso wie Schlafzimmer, Flure oder andere häusliche Interieurs. Die Darstellung in Ausschnitten lässt diese Orte eigenartig undefiniert, gleichsam als Unorte erscheinen, in denen die agierenden Menschen isoliert, verloren und bedroht wirken Es ist schwer auszumachen, was die Bilder zeigen, denn die De-fokussierung verweigert dem Betrachter die genaue Information über das Abgebildete. Je näher man herangeht, desto mehr lösen sich die Flächen auf. Erst in der Distanz stellt sich eine gewisse Konturenschärfe ein und damit ein schemenhaftes Erkennen der Motive.

Durch das Stilmittel der Unschärfe stellt der Künstler nicht nur die Wahrheitskriterien der Fotografie in Frage, sondern löst zudem beim Betrachter Ungewissheit aus, die störend, ineffizient und mitunter bedrohlich ist. Die Unsicherheit, die aus der Verweigerung der unmittelbaren Erkenntnis des Gesehenen resultiert, zwingt förmlich dazu, frei zu assoziieren und neue narrative Zusammenhänge her-zustellen. Dieser Prozess wird zudem unterstützt durch die Gruppierung und Reihung der Bilder zu Diptychen oder Triptychen, denn die so entstehenden Folgen suggerieren einen Ablauf, eine mögliche Tat. Anders als beim Krimi, bei dem Erzählstruktur und Handlung vom Drehbuch vorgegeben sind, wird man an den Tatorten von Jens Nagels also selbst zum Ermittler, erfindet eine eigene Geschichte, die dem Versuch einer Rekonstruktion des Geschehens gleichkommt. Zu diesem Zweck wird der Ermittler / der Rezipient auf alle Informationen zurückgreifen, die ihm zur Verfügung stehen und dabei feststellen, dass seine Vorstellung von Tathergängen unmittelbar geprägt ist nicht nur von medialen Bildwelten, sondern auch von jenen Mythen, die sich seit jeher um Verbrechen und Gewalt ranken. Die Kunstgeschichte kennt unzählige Beispiele der Darstellung von Tatorten: die Dramen der griechischen Mythologie, biblische Szenen von Bruder-, Opfer- und Kindermord, die Martyrien der Heiligen und Helden, der Raub der Sabinerinnen oder Judith und Holofernes, um nur einige zu nennen. Die Protagonisten der Fotoarbeiten von Jens Nagels sind Männer und Frauen, die gemeinsam in einem Bild auftreten oder als Einzelpersonen in der Zusammenstellung der Bilder einander gegenüber treten. In den meisten Fällen scheint es sich bei den Taten um Beziehungsdramen zu handeln, in denen sich das klassische Bild vom Mann als Täter und der Frau als Opfer manifestiert. Aber der erste Anschein trügt, denn bei genauerer Betrachtung verschieben sich eben diese Rollenklischees. Jedes Motiv bleibt für sich gesehen uneindeutig und genau aus dieser Offenheit beziehen die Arbeiten ihre Spannung. 

 

Das Eigentliche der Gewalt, ihre rohe Physis, ist in den „Tatorten“ nicht unmittelbar dargestellt, sondern erfährt vielmehr eine künstlerische Um­formung, die auch die Möglichkeiten der Kunst aufzeigt: den Dingen eine neue Form zu geben, die es möglich macht, über sie zu reflektieren. Das Werk von Jens Nagels unterwandert auf subtile Weise unsere Er­­wartungen und Sehgewohnheiten – hinter den ästhetischen Oberflächen lauert das Grauen. 

Barbara Heinrich